Es hat alle überrascht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (kurz EGMR) in Straßburg befasst sich erstmals in seiner Geschichte mit drei Klimaschutz-Klagen. Menschenrechtsexpertin Theresa Weber erklärt, was wir alles zu diesen Klagen wissen müssen.
Auf drei Klagen aus drei unterschiedlichen Ländern schaut dieses Jahr die ganze Welt. Die Kläger:innen:
- Senior:innen aus der Schweiz: Sie sehen ihre Gesundheit durch steigenden Temperaturen bedroht. Mit ihrer Klage wollen sie erreichen, dass die Schweiz juristisch zu besserem Klimaschutz gezwungen wird.
- Jugendliche aus Portugal: Sie sehen in Zukunft ihre körperliche und geistige Gesundheit bedroht, weil die Klimakrise zu mehr Hitzewellen führt. Sie verklagen 32 Mitgliedstaaten des Europarates und fordern, dass sich diese Länder an die Pariser Klimaziele halten.
- Ein Ex-Bürgermeister aus Frankreich: Er sieht sein Recht auf Leben sowie die Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt, weil Frankreich zu wenig gegen die Klimakrise unternimmt.
EGMR fühlt sich für Klimaschutz zuständig
Aber woher kommt das große Interesse? Klima- und Umweltschutzfragen werden doch in Gerichten auf der ganzen Welt verhandelt. Was die drei Fälle so besonders macht, ist das Gericht, an dem sie verhandelt werden. Es ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Straßburg. Wie der Name nahelegt, befassen sich die Richter:innen dort ausschließlich mit Fällen, bei denen Menschenrechte gebrochen werden. Indem der EGMR die drei Fälle angenommen hat, sagt er indirekt: Staaten können mit ihrer Klimapolitik (oder eben mit dem Fehlen wirksamer Klimapolitik) Menschenrechte verletzen. Das ist ein Meilenstein. Egal, ob das Gericht den Kläger:innen letztendlich recht geben wird. Denn genauso gut hätte der EGMR die Klagen auch abweisen können – mit der Begründung, für solche Belange nicht zuständig zu sein.
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Mehr InformationenVerletzen Staaten das Recht auf Leben?
„Ob Klimaschutz wirklich ein Menschenrecht ist, darüber wird seit vielen Jahren diskutiert“, erklärt uns Juristin Theresa Weber im Gespräch. Sie ist Expertin für öffentliches Recht und Menschenrechte und war selbst über den EGMR überrascht. Sie erklärt uns, was es konkret heißen würde, wenn das Recht auf Klimaschutz als ein Menschenrecht ausgelegt wird.
Im Artikel 2 der Europäische Menschenrechtskonvention steht: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. „Und zu diesem Recht auf Leben gehört, dass ich keinen gesundheitsgefährdenden Beeinträchtigungen ausgesetzt bin“, sagt Weber. „Wenn ein Staat aber keine ausreichenden Klimaschutz-Maßnahmen ergreift, dann sind eben solche gesundheitsgefährdenden Beeinträchtigungen vorprogrammiert.“ Damit sei Klimaschutz ein notwendiger Bestandteil des Rechts auf Leben, könnte man juristisch argumentieren. Aber was, wenn der EGMR diese Argumentation wirklich anerkennt?
Das passiert, wenn die Kläger:innen gewinnen
„Dann wären die betroffenen Staaten verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu treffen, um die Klimakrise auszubremsen“, sagt Theresa Weber. Nur: Wie entsprechende Maßnahmen ausschauen, ist eine schwierige Frage. „Ab welchem mangelnden Klimaschutzniveau besteht überhaupt für wen welche negative Auswirkung? Wo zieht man die Grenzen?“ Juristisch festzustellen, wie viel Klimaschutz ausreichend ist, um kein Menschenrecht zu verletzen, ist komplex. „Gibt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Kläger:innen recht, heißt das also nicht sofort, dass es neue Klimaschutz-Maßnahmen gibt“, sagt Weber. Der EGMR kann Staaten auch nicht zwingen, neue Gesetze zu erlassen. „Da sind die Regierungen der jeweiligen Länder gefordert.“ Lohnen sich die Mühen der Kläger:innen dann überhaupt?
„Wenn Klimaschutz gerichtlich als Menschenrecht anerkannt ist, dann hätte das eine starke politische Wirkung.“
Symbolische Kraft der Klagen ist riesig
Menschenrechtsexpertin Theresa Weber glaubt ja. „Wenn Klimaschutz gerichtlich als Menschenrecht anerkannt ist, dann hätte das eine starke politische Wirkung.“ Auch deswegen, weil der EGMR nicht einfach irgendein Gericht ist, sondern eine hoch angesehene Instanz. Sein Wort hat Gewicht und deswegen werden Medien auf der ganzen Welt über die Klagen berichten. Ein Urteil des EGMR könnte Klimaschutz eine ganz neue Legitimation geben. Aber wie wahrscheinlich ist das alles? Können die Kläger:innen gewinnen?
So stehen die Chancen vor Gericht
Theresa Weber kann auf diese Frage keine eindeutige Antwort geben. Allein schon deswegen, weil die Klagen durchaus unterschiedlich seien, auch wenn sie sich alle auf Menschenrechte berufen. „Die Jugendlichen aus Portugal arbeiten mit einer Argumentationslinie, die relativ neu ist“, erklärt uns die Juristin. Sie sagen: Durch die Untätigkeit der Staaten beim Klimaschutz werden in Zukunft unsere Menschenrechte beeinträchtigt sein. Sie argumentieren also in die Zukunft gerichtet. Das gab es bisher kaum, deswegen ist es schwer abzuschätzen, wie der EGMR das beurteilt. Die Schweizer:innen hingegen sagen: Durch fehlenden Klimaschutz entstehen ihnen jetzt schon gesundheitliche Probleme. „Das ist eine Argumentation, zu der es viel Rechtsprechung gibt“, sagt Weber. Deswegen gebe es für die Schweizer Senior:innen weniger Hürden als bei den Jugendlichen aus Portugal. Hier scheint ein Sieg vor Gericht als wahrscheinlicher.
Klarheit wohl frühestens Ende des Jahres
Wie wahrscheinlich, ist aber unmöglich zu sagen. Mit allen drei Klagen wird juristisches Neuland betreten. Bis es zu einem Urteil kommt, gibt es wohl bei allen drei Klagen noch viele Anhörungen. Mit einem Urteil ist also frühestens Ende 2023 zu rechnen.
Es gibt auch Klimaklagen aus Österreich
Und auch eine Klimaklage aus Österreich könnte früher oder später vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Zwölf Kinder und Jugendliche verklagen derzeit den Staat Österreich vor dem Verfassungsgerichtshof. Sie beziehen sich ich ihrer Klage auf die Kinderrechte, die in der österreichischen Verfassung festgeschrieben sind. Demnach haben Kinder das Recht, aktiv vor den Auswirkungen der Klimakrise geschützt zu werden. Ein Klimaschutzgesetz, das keine konkreten Ziele zur Reduktion und verbindliche Verpflichtungen beinhaltet, verstößt gegen diese Verfassungsrechte. Die Organisation Fridays For Future, die die Klage unterstützt, rechnet Ende Juni mit einem Urteil. Lehnt der Verfassungsgerichtshof die Klage ab, hätten die Jugendlichen alle Rechtswege in Österreich ausgeschöpft und könnten damit zum Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen.
Klimaschutz wird nicht nur vor Gericht verhandelt
Müssen wir alle vor Gerichte ziehen, um mehr Klimaschutz von unserem Staat zu bekommen? Nein, das wäre unrealistisch. Klagen wie jene aus Portugal, Frankreich und der Schweiz sind mit enormem Aufwand für alle Beteiligten verbunden.
Es gibt viele Möglichkeiten auch abseits von Gerichten jene politischen Akteur:innen unter Druck zu setzen, die wirksamer Klimapolitik im Weg stehen. Das wichtigste Werkzeug für politische Veränderung ist unsere Stimme bei Wahlen. Wenn Bürger:innen jene Parteien abstrafen, die Klimaschutz nicht ernst nehmen, führt das schnell zu einem Umdenken. Menschenrechtsexpertin Theresa Weber betont hier wie wichtig Protest und zivilgesellschaftlichen Engagement sind, um Klimaschutz voranzubringen.