Jedes Zehntelgrad weniger zählt

Der Golfstrom und der Amazonas-Regenwald, zwei wichtige Zahnräder im großen Getriebe unseres Klimasystems. Beide drohen schon in naher Zukunft zu kippen, sagen zwei neue Studien. Was das bedeutet und vor allem, was wir angesichts dieser Bedrohungen tun können, liest du hier.

Sowohl der Amazonas-Regenwald als auch der Golfstrom sind sogenannte Kippelemente. Kippelemente sind wichtige Bestandteile unseres Klimasystems, die ab einem gewissen Punkt der Erderwärmung kippen können. Das heißt: Sie bleiben lange Zeit stabil, obwohl die Temperatur auf der Erde steigt. Ist aber ein gewisser Schwellenwert überschritten, dann verändern sie sich plötzlich und unaufhaltsam. Nach dem Kipppunkt ist es egal, wie sich die Temperatur auf der Erde weiterentwickelt. Wir Menschen müssen dann tatenlos zusehen.

Neue Studien sind ein Warnschuss

Wo die Schwelle für bestimmte Kippelemente liegt, ist in der Wissenschaft ein viel diskutiertes Thema. Zwei große neue Studien liefern nun neue beunruhigende Erkenntnisse. Ein niederländisches Forscherteam hat sich mit den Veränderungen des Golfstroms beschäftigt. Das ist eine Meeresströmung, die vereinfacht gesagt warme Wassermassen aus der Karibik nach Europa bringt. Dank des Golfstroms haben wir in Europa vergleichsweise milde Winter. Noch. Denn wir bewegen uns auf den Kollaps zu, sagen die Forscher:innen. Schuld ist die menschenverursachte Eisschmelze an den Polen. Wann genau und wie schnell der Golfstrom zusammenbricht, ist nicht vorhersehbar. Es kann in diesem Jahrzehnt oder erst am Ende des Jahrhunderts passieren. Aber je mehr Treibhausgase wir ausstoßen, desto früher tritt er ein, so die Studie. Die Auswirkungen eines Zusammenbruches wären dramatisch. Der Meeresspiegel würde um einen Meter ansteigen, in der südlichen Hemisphäre würde es heißer werden, in Europa dafür deutlich kälter. In Wien wäre es im Winter durchschnittlich um fünf bis acht Grad kälter.

Der Golfstrom ist Teil der Atlantischen Umwälzzirkulation. Bricht der Strom zusammen, würde es in Europa sehr viel kälter werden.

Nicht minder dramatisch wäre der Kollaps des Amazonas Regenwaldes. Nicht nur würde ein Zusammenbruch zu einem massiven Freisetzen von Kohlenstoff führen, der in den Pflanzen gespeichert ist. Der Amazonas-Regenwald ist auch ein wichtiger Motor im globalen Klima. Er gibt Feuchtigkeit in die Atmosphäre ab, die als Niederschlag in anderen Teilen der Welt niedergeht. Bis 2050 könnte aber fast die Hälfte des Waldes verschwinden, sagt eine neue Studie. Schuld daran sind vor allem Abholzung, Dürren und Waldbrände. Ab einem gewissen Punkt würden sich alle diese negativen Effekte gegenseitig verstärken und den unaufhaltsamen Zusammenbruch des Ökosystems bedeuten.

Kippelemente sind das Damoklesschwert der Klimakrise

Dass es Kippelemente in unserem Klimasystem gibt und vor allem, dass sie eine große Gefahr sind, wissen Forscher:innen schon länger. Der Golfstrom und der Amazonas-Regenwald sind nur zwei davon. In den letzten Jahren hat die Wissenschaft insgesamt 16 Kippelemente in unserem Klimasystem identifiziert und benannt. Bisher hielt man vor allem Korallenriffe, Permafrostböden und das Polareis für die instabilsten. Je wärmer die globale Durchschnittstemperatur, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass ein oder mehrere dieser Kippelemente tatsächlich ausgelöst werden. Wenn das passiert, dann droht ein Dominoeffekt.

Wenn ein Kippelement seinen Schwellenwert überschreitet, könnte das weitere mitreißen. Das klingt drastisch, aber unser Klimasystem ist empfindlich und hochkomplex. Unzählige physikalische Phänomene, Ökosysteme und Kreisläufe spielen in unserem Klimasystem zusammen und sind voneinander abhängig. Das macht es auch so schwer, sichere Prognosen über die Zukunft unseres Klimas abzugeben.

Wir können uns dieses System wie eine Balkenwaage vorstellen. Allerdings gibt es nicht nur einen Balken mit zwei Schalen links und rechts, sondern unüberschaubar viele Schälchen und Balken, die alle miteinander verbunden sind. Wenn bestimmte Schalen sich stark verändern, etwa wenn Kippelemente tatsächlich kippen, könnte die Waage aus dem Gleichgewicht geraten. Das gilt es um jeden Preis zu verhindern.

Unsere Zivilisation braucht stabiles Klima

Wir erreichen bald einen Punkt, an dem die Erderwärmung das ganze Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringt. Ohne Golfstrom und ohne Amazonas-Regenwald wäre unser Klima ein völlig anderes.  Wir steuern sehenden Auges in eine Klimaphase, die das Ende unserer Zivilisation bedeuten könnte.

Es gibt keine risikofreien Fristen mehr, innerhalb derer wir Klimaschutzmaßnahmen umsetzen können. Wir wechseln in ein neues Stadium der Klimakrise, ob wir wollen, oder nicht. Jetzt geht es darum, jedes Zehntelgrad an weiterer Erderwärmung zu verhindern. Jedes Zehntel Grad kann das Kippen oder Nichtkippen von Klimaelementen bedeuten. Ob es funktioniert, dafür gibt es keine Garantie mehr. Die Klimawissenschaft kann nur Wahrscheinlichkeiten anbieten.

Aber Hoffnung gibt es. Wenn wir die globale Erwärmung rasch bremsen, ist es wahrscheinlich, dass wir ein stabiles Klima aufrechterhalten können. Ein Klima, das unsere Zivilisation braucht. Noch können wir den Kollaps des Golfstromes und des Amazonas-Regenwaldes mit großen Anstrengungen verhindern. Jedes Zehntelgrad Erderwärmung weniger zählt!

Kippelemente Klima
Überblick über die Klima-Kippelemente unserer Erde. © Globaia for the Earth Commission/ PIK, SRC und Exeter University

Über die/den Autor:In

Markus Englisch
Markus Englisch
Markus studierte TV- und Medienproduktion in Wien. Sein größter Antrieb als Journalist ist es, die Klimakrise für alle Menschen begreifbar zu machen. Zuletzt war er als Redakteur bei PULS 4 tätig und leitete das Nachhaltigkeitsmagazin KLIMAHELDiNNEN.

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