Jedes Zehntelgrad weniger zählt

Unser Klima reagiert empfindlicher auf menschliche Einflüsse, als wir bisher angenommen haben. Das haben Klimaforscher:innen in einer neuen Studie herausgefunden. Selbst beim heutigen Stand der globalen Erwärmung besteht die Gefahr, dass wir fünf gefährliche Klima-Kipppunkte überschreiten. Aber es gibt auch Hoffnung.

Seit rund 12.000 Jahren befindet sich unsere Erde in einer außergewöhnlich stabilen Klimaphase, dem Holozän. Es herrscht ein gleichbleibend mildes Klima ohne größere Veränderungen. In dieser stabilen Zeit hat der Mensch einen einmaligen Weg beschritten. Wir haben uns von Jäger- und-Sammelgruppen zu einer hoch entwickelten Zivilisation mit beinahe 8 Milliarden Individuen entwickelt. Noch nie zuvor hat eine Spezies auf unserer Erde eine derart komplexe Form des Zusammenlebens entwickelt.

Unsere Zivilisation braucht stabiles Klima

Diese Entwicklung war allerdings nur möglich, weil es in den letzten 12.000 Jahren vergleichsweise wenig Abweichungen von der sogenannten Mitteltemperatur gab. Für unsere Vorfahren hieß das: wenig Wetterextreme und relativ stabile Ernten. In diesem Zustand des klimatischen Gleichgewichts konnte die Erde eine immer größer werdende Bevölkerung ernähren. Doch dann haben wir begonnen, riesige Mengen an CO₂ und Methan in die Atmosphäre zu befördern. Seitdem erwärmt sich die Erde. Wir erreichen bald einen Punkt, an dem die Erderwärmung das ganze Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringt. Und damit beenden wir sehenden Auges die stabile Klimaphase, die für unsere Zivilisation so wichtig ist.

Kippelemente Klima
Überblick über die Klima-Kippelemente unserer Erde. © Globaia for the Earth Commission/ PIK, SRC und Exeter University

Wie sich unser Klima in den nächsten Jahrzehnten entwickelt, hängt stark von sogenannten Kippelementen ab. Der westantarktische Eisschild ist solch ein Element, genauso wie der Amazonas-Regenwald und der Golfstrom. Kippelemente sind wichtige Bestandteile unseres Klimasystems, die ab einem gewissen Punkt der Erderwärmung kippen können. Das heißt: Sie bleiben lange Zeit stabil, obwohl die Temperatur auf der Erde steigt. Ist aber ein gewisser Schwellenwert überschritten, dann kippen sie. Das kann katastrophale Folgen haben. Ab diesem Zeitpunkt ist es egal, wie sich die Temperatur auf der Erde weiterentwickelt.

Am Beispiel des westantarktischen Eisschildes hieße das: Ist der Kipppunkt des Eises überschritten, taut es unaufhaltsam auf. Es gibt keine Möglichkeit, diesen Prozess zu stoppen. Schlimmer noch: Das Abtauen des Eises verstärkt sich ab einem gewissen Punkt selbst. Das liegt besonders daran, dass die kilometerdicken Gletscher durch das Abschmelzen an Höhe verlieren und in niedrige und damit wärmere Luftschichten kommen. Die Klimawissenschaft spricht von einem Rückkopplungseffekt. Ein Teufelskreis, der, wenn er erst mal begonnen hat, nicht mehr aufzuhalten ist.

Wo die Schwelle für bestimmte Kippelemente liegt, das galt in Fachkreisen als ungewiss. Ein internationales Forschungsteam kommt nach der Auswertung von über 200 Studien der Antwort allerdings näher. Was sie herausgefunden haben, ist beunruhigend.

Kippelemente sind das Damoklesschwert der Klimakrise

Dass es Kippelemente in unserem Klimasystem gibt und vor allem, dass sie eine große Gefahr sind, wissen Forscher:innen schon länger. In den letzten Jahren hat die Wissenschaft 16 Kippelemente in unserem Klimasystem identifiziert und benannt. Das Forscherteam rund um David Armstrong McKay von der Universität Stockholm hat sich in seiner jüngsten Studie nun angesehen, wann diese 16 Kippelemente tatsächlich kippen könnten.

„Ab 1,5 Grad steigt die Gefahr deutlich an.“

Das erschreckende Ergebnis: Fünf Kipppunkte könnten wir bereits bei den heute erreichten Temperaturen auslösen. Bisherige Studien hätten schlichtweg unterschätzt, wie sensibel unser Klimasystem auf die menschengemachte Erderwärmung reagiert. Das berichtet der Forscher mit seinem Team in der angesehenen Fachzeitschrift Science.

Am instabilsten halten sie Korallenriffe, Permafrostböden und das Polareis. Es gebe aber auch Anzeichen, dass der Amazonas-Regenwald und die atlantischen Umwälzzirkulation instabil werden. Die wichtigste Aussage der Studie ist aber: Ab einer globalen Erderwärmung von über 1,5 Grad Celsius steigt die Wahrscheinlichkeit deutlich an, dass ein oder mehrere dieser Kippelemente tatsächlich ausgelöst werden. Wenn das passiert, dann droht ein Dominoeffekt.

Unser Klimasystem ist in einem empfindlichen Gleichgewicht

Denn wenn ein Kippelement seinen Schwellenwert überschreitet, könnte das weitere mitreißen. Das klingt drastisch, aber unser Klimasystem ist empfindlich und hochkomplex. Unzählige physikalische Phänomene, Ökosysteme und Kreisläufe spielen in unserem Klimasystem zusammen und sind voneinander abhängig. Das macht es auch so schwer, sichere Prognosen über die Zukunft unseres Klimas abzugeben.

Wir können uns dieses System wie eine Balkenwaage vorstellen. Allerdings gibt es nicht nur einen Balken mit zwei Schalen links und rechts, sondern unüberschaubar viele Schälchen und Balken, die alle miteinander verbunden sind. Wenn bestimmte Schalen sich stark verändern, etwa wenn Kippelemente tatsächlich kippen, könnte die Waage aus dem Gleichgewicht geraten. Das gilt es um jeden Preis zu verhindern.

Es gibt Hoffnung

Die neue Studie hält uns eine Tatsache deutlich vor Augen: Die Klimakrise ist keine Krise der Zukunft, sondern der Gegenwart. Eine Krise, die unsere volle Aufmerksamkeit braucht. Es geht jetzt nicht mehr um das Einhalten bestimmter Ziele, die in der Zukunft liegen. Es gibt keine risikofreien Fristen mehr, innerhalb derer wir Klimaschutzmaßnahmen umsetzen können. Das haben wir verspielt.

Wir wechseln in ein neues Stadium der Klimakrise, ob wir wollen, oder nicht. Jetzt geht es darum, jedes Zehntelgrad an weiterer Erderwärmung zu verhindern. Jedes Zehntel Grad kann das Kippen oder Nichtkippen von Klimaelementen bedeuten.  Ob es funktioniert, dafür gibt es keine Garantie mehr. Die Klimawissenschaft kann nur Wahrscheinlichkeiten anbieten. Aber Hoffnung gibt es. Wenn wir die globale Erwärmung rasch bremsen, ist es wahrscheinlich, dass wir ein stabiles Klima aufrechterhalten können. Ein Klima, das unsere Zivilisation braucht. Das sagen auch die Autor:innen der Studie. Noch können wir den Kollaps unseres Klimasystems mit großen Anstrengungen verhindern. Jedes Zehntelgrad Erderwärmung weniger zählt!

Über die/den Autor:In

Markus Englisch
Markus Englisch
Markus studierte TV- und Medienproduktion in Wien. Sein größter Antrieb als Journalist ist es, die Klimakrise für alle Menschen begreifbar zu machen. Zuletzt war er als Redakteur bei PULS 4 tätig und leitete das Nachhaltigkeitsmagazin KLIMAHELDiNNEN.

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