Zu lange blind am rechten Auge

Es hat bis in die 1990er Jahre gedauert, bis Österreich begonnen hat, sich kritisch mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Realität wurde jahrzehntelang verdrängt, mit den Täter:innen setzte man sich nicht auseinander. Das hat Folgen bis heute.

Wer den Film „Murer“ gesehen hat, weiß: Österreich hat ein Problem mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Steirer Franz Murer war maßgeblich für die Vernichtung der Juden und Jüdinnen in der litauischen Hauptstadt Vilnius verantwortlich. Die Opfer nannten ihn den Schlächter von Wilna. Im Nachkriegs-Österreich wurde er zunächst nicht strafrechtlich verfolgt. Erst auf Drängen des Holocaust-Überlebenden und Publizisten Simon Wiesenthal wurde Murer 1962 angeklagt – und 1963 freigesprochen. Die Öffentlichkeit hat diesen Freispruch bejubelt. Im Film und in der Realität.

Murer war kein Einzelfall. Täter:innen gab es nach 1945 keine in Österreich, so die offizielle Darstellung. Alle waren Opfer. Die Schuld an allem gab man Deutschland. Am Anschluss im März 1938, den im Nachhinein niemand in Österreich begrüßt haben will. An den Verbrechen, an denen keine Österreicher:innen beteiligt gewesen sein sollen, weil es zwischen 1938 und 1945 kein Österreich gegeben hatte.

Berufen hat man sich dabei auf die Moskauer Deklaration aus dem Jahr 1943. Die Alliierten haben darin Österreich tatsächlich als erstes Land bezeichnet, das der deutschen Angriffspolitik zum Opfer fiel. Allerdings haben sie darin auch festgehalten, dass Österreich an der Seite Deutschlands in den Krieg gezogen ist und dafür Verantwortung übernehmen muss. Letzteres wurde schnell unter einen österreichischen Teppich gekehrt und somit musste man sich nach dem Krieg auch nicht mit den Täter:innen auseinandersetzen. Und das, obwohl 1942 8,2 Prozent der Österreicher:innen Mitglieder der NSDAP waren und Österreicher wie Adolf Eichmann und Odilo Globocnik führende Positionen im NS-Apparat innehatten.

Verdrängen mit Folgen

Dass die Realität eine andere war, blendete man lange Zeit aus. Und das verfolgt uns bis heute. Indem Politik und Gesellschaft jahrzehntelang nicht aufgearbeitet haben, was Österreicher:innen während des Zweiten Weltkriegs getan haben, und die Verbrechen nicht verurteilt haben, konnte auch das nationalsozialistische Gedankengut überleben.

Die Täter:innen haben sich als Opfer gesehen, als Opfer der Alliierten, die das nationalsozialistische Deutschland besiegt haben. Ihr Gedankengut konnten die Nationalsozialist:innen an ihre Kinder weitergeben. Eines dieser Kinder war Jörg Haider, der sich im Laufe seiner politischen Karriere mehrmals antisemitisch geäußert hat. Unter ihm als Obmann hat die FPÖ 1992 auch das Österreich zuerst-Volksbegehren initiiert, das besser bekannt ist unter dem Namen Ausländer raus-Volksbegehren. Der Name war Programm.

Der Mythos bröckelt

Die NS-Zeit wollte das offizielle Österreich nach 1945 möglichst schnell vergessen. Doch dann kam 1986 Kurt Waldheim, der die Geschichte von der Pflichterfüllung an der Front nicht mehr glaubhaft vermitteln konnte – zumindest international. Die Mehrheit der Österreicher:innen hat das ehemalige SA-Mitglied zum Bundespräsidenten gewählt. Trotzdem begann der Opfermythos in Österreich zu bröckeln. 1991 gestand dann der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky die Mitschuld von Österreicher:innen an nationalsozialistischen Verbrechen ein.

Seither tut sich etwas in dem Land. Erinnern und Gedenken rückten in den Vordergrund. Gedenkstätten wie das Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz wurden errichtet und für die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen wurde ein Nationalfonds eingerichtet. Mittlerweile können Verfolgte und ihre Nachkommen wieder die österreichische Staatsbürgerschaft annehmen.

Weiter Nährboden für rechtes Denken

Doch auch wenn sich vieles getan hat in den letzten 30 Jahren, rechtspopulistische und rechtsextreme Ideen finden in Österreich immer noch einen guten Nährboden vor. Wirft man einen Blick in den Verfassungsschutzbericht, liest man da: „Das Risiko rechtsextremistisch motivierter Tathandlungen und nachhaltiger Radikalisierung von Akteurinnen und Akteuren sowie Gruppierungen bleibt konstant erhöht.“ Indem sie versucht haben, die Protestaktionen gegen die Covid19-Schutzmaßnahmen für sich zu vereinnahmen, ist es ihnen gelungen, in Gesellschaftsschichten vorzudringen, die sie bisher nicht erreicht haben.

Dass rassistische und nationalistische Denkweisen für immer mehr Österreicher:innen anschlussfähig sind, zeigen auch die aktuellen Wahlumfragen. Die FPÖ führt diese seit Monaten an. Ihr Chef, Herbert Kickl, verwendet laufend Begriffe mit eindeutigem NS-Bezug.

Auch die letzte Antisemitismusstudie wirft kein gutes Bild auf die Entwicklungen in Österreich. Ein Drittel der Befragten stimmte der Aussage zu, dass Juden und Jüdinnen versuchen, Vorteile daraus zu ziehen, während der NS-Zeit Opfer gewesen zu sein. Dem Satz „Ich bin dagegen, dass man immer wieder die Tatsache aufwärmt, dass im Zweiten Weltkrieg Juden umgekommen sind“ stimmte ebenfalls ein Drittel zu.

Bewusstsein durch Erinnerung

Ohne Erinnern geht es aber nicht. „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dafür, dass es nicht wieder geschieht, dafür schon“, hat der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer gesagt. Die Geschichte der Zweiten Republik zeigt uns, was passiert, wenn wir die Verbrechen der Nationalsozialist:innen und die 17 Millionen Menschen, die sie getötet haben, vergessen. Menschen entwickeln nur schwer ein Bewusstsein für diese Ungerechtigkeit. Und das kann dazu führen, dass sie die Verbrechen der Nazis verharmlosen und rechtsextremes Gedankengut anschlussfähig finden. Wir müssen also erinnern, um ein Bewusstsein zu schaffen, dass sich autoritäre Systeme wie der Nationalsozialismus nie wieder wiederholen.

Wir müssen das Unrecht von damals verstehen, damit wir heute Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Hetze erkennen und dagegen aufstehen. Dem Onkel bei der Familienfeier widersprechen oder der jungen Muslimin, die in der U-Bahn wegen ihres Kopftuchs rassistisch beleidigt wird, helfen. Hier ist das Bildungssystem gefragt, aber auch die Zivilgesellschaft. Es gibt Vereine und Organisationen, die den Rechtsruck verhindern wollen. Zum Beispiel der Verein Gedenkdienst, der nicht nur Österreicher:innen für den Gedenkdienst ins Ausland entsendet, sondern auch Workshops anbietet, in denen sich Teilnehmer:innen unter anderem damit auseinandersetzen, wie die Erinnerungspolitik nach 1945 bis heute spürbar ist. Wir können solche Angebote nutzen, aber uns auch selbst engagieren. Ein wichtiges Mittel sind auch Demonstrationen. Dort können wir ganz klar zeigen, dass wir es nicht hinnehmen, wenn Rechtsextreme beispielsweise die Deportation von mehreren tausend Menschen planen.

Nur still sein, das dürfen wir nicht.

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Über die/den Autor:In

Nicole Frisch
Nicole Frisch
Nicole studiert Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Das Ziel: Die Weltpolitik verstehen – und das Verstandene mit möglichst vielen Menschen teilen. Ihren Weg in den Journalismus hat sie über die NÖN gefunden. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Migration und Vergangenheitspolitik.

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