Wohnstraßen: Mensch vor Motor

Die meisten Wohnstraßen schauen aus wie gewöhnliche Straßen. Eine Fahrbahn in der Mitte, Parklücken am Straßenrand. Mit Umgestaltungen dieser Straßen sollen mehr Menschen hinaus gelockt und das soziale Miteinander gefördert werden. Die Bernardgasse will so Wiens erste echte Wohnstraße werden. 

Ein roter Federball fliegt durch die Christophgasse im 5. Wiener Bezirk Margareten. Von Badmintonschläger zu Badmintonschläger. Manchmal verirrt er sich und landet am Straßenrand oder zwischen den abgestellten Fahrrädern. Gespielt wird mitten auf der Fahrbahn. Bis ein Auto kommt. Dann packt man alles zusammen, lässt den Pkw vorbeifahren – und dann spielt man einfach weiter. Das geht in der Christophgasse. Sie ist nämlich eine Wohnstraße.

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Wohnstraßen sind für die Menschen da. Sie können auf ihnen spielen, die Mittagspause verbringen, einen Kaffee trinken oder im Liegestuhl gemütlich ein Buch lesen. Sie sind ein verlängertes Wohnzimmer. Zumindest in der Theorie. Denn in der Realität sind die Wiener Wohnstraßen oftmals reine Betonwüsten, zugeparkt von Autos. Von anderen Straßen unterscheiden sie sich optisch kaum. Sie laden weder zum Verweilen noch zum Spielen ein. Aber zum Durchfahren, obwohl Kraftfahrzeuge eigentlich nur mit maximal fünf km/h zu- und abfahren dürfen, um einen Parkplatz zu suchen oder etwas zu liefern.

Bernardgasse wird Wohnstraße

In Wien gibt es mehr als 220 Wohnstraßen. Sie alle haben zwar das Potenzial den Menschen mehr Platz im öffentlichen Raum zu geben, sind aber hauptsächlich nur verkehrsberuhigende Maßnahmen. Eine halbe Stunde Fußweg von der Christophgasse entfernt soll sich das ändern. In der Bernardgasse im 7. Wiener Bezirk Neubau reihen sich derzeit noch parkende Autos aneinander. Der rund 500 Meter lange Straßenzug darf mit maximal 30 km/h befahren werden. Ab Herbst soll die Bernardgasse zu einer Wohnstraße umgestaltet werden.

Umgestaltung Wohnstraßen
Aktuell ist die Bernardgasse mit Autos zugeparkt. © Nicole Frisch
Fixe Parkflächen für Pkw werden gestrichen

Dafür werden alle fixen Stellplätze für Pkw gestrichen. Aber aus gutem Grund: Denn solange es Parklücken gibt, kann die Polizei nicht kontrollieren, ob Pkw die Straße als Abkürzung verwenden und durchfahren oder erfolglos einen Parkplatz gesucht haben. Denn wenn sie in die Straße einfahren, können sie nicht wissen, ob eine Parklücke frei ist. „Die Verkehrsbehörde hat ganz klar gesagt: Wenn es keine fixen Stellplätze mehr gibt, dann ist es exekutierbar. Dann bekommen wir auch Wiens erste echte Wohnstraße“, erklärt Neubaus Bezirksvorsteher Markus Reiter. Halte- und Ladeflächen sollen das Ein- und Aussteigenlassen von Personen sowie Ausladen von Gegenständen ermöglichen.

Mobilität verbieten will man mit dieser Maßnahme nicht, das ist Reiter wichtig. Sie soll ermöglicht werden, aber im Sinne der Raumgerechtigkeit. Und die Realität im 7. Bezirk sieht so aus, dass lediglich 16 Prozent mit Kraftfahrzeugen unterwegs sind. 36 Prozent gehen zu Fuß, 34 Prozent nutzen den öffentlichen Verkehr und 14 Prozent fahren mit dem Fahrrad. Die Zahlen zeigen deutlich, dass es mehr Platz braucht, um mit dem Rad zu fahren oder zu Fuß zu gehen.

Geschwungene Straße für weniger Tempo

Daher werden die Gehwege in der Bernardgasse breiter gemacht. Auf beiden Seiten werden diese nach der Umgestaltung zwei Meter breit sein. Das sind die gesicherten Gehwege, denn in einer Wohnstraße dürfen sich die Nutzer:innen ohnehin auch auf der Fahrbahn aufhalten. Die Straßenführung wird künftig geschwungen sein. Dafür sorgen Pflanzen. „Der Individualverkehr wird sich durchmäandern müssen. Da hoffen wir auch, dass das einen gewissen Effekt hat und zur Temporeduktion beiträgt“, lässt Reiter wissen.

Boden entsiegeln und Bäume pflanzen

Den Menschen soll aber nicht nur das Durchspazieren erleichtert werden, sie sollen auch zum Verweilen eingeladen werden. Bäume werden gepflanzt und beschattete Sitzmöglichkeiten geschaffen. In Gemeinschaftsbeeten können die Anwohner:innen ihren grünen Daumen entdecken. Der Boden soll entsiegelt werden. Statt Asphalt kommen helle Granitpflastersteine. Im rund 50 Meter langen Abschnitt zwischen Gürtel und Wimbergergasse wird künftig nur noch Radfahren oder Zufußgehen möglich sein. Der Bereich wird für Kraftfahrzeuge gesperrt und mit einer grünen Wand vom stark befahrenen Gürtel abgeschirmt.

Umgestaltung Wohnstraßen
So sieht die Bernardgasse nach der Umgestaltung aus: Mehr grün und mehr Platz für die Menschen. © EGKK Landschaftsarchitektur / Schreiner Kastler
Bürger:innen redeten mit

Bei all diesen Maßnahmen hat die Bezirksvorstehung in Neubau Rückendeckung aus der Bevölkerung. Diese wurde nämlich in den Umgestaltungsprozess eingebunden. 1.400 Rückmeldungen hat es aus der Bevölkerung gegeben. Die Zustimmung liegt bei 85 Prozent. „Wir brauchen ein neues Bild, eine neue Vision von Straßenräumen. Damit das gelingt – und das ist ein Hinweis an die politischen Entscheidungsträger – braucht es Partizipation“, betont Reiter.

“Wir brauchen ein neues Bild, eine neue Vision von Straßenräumen.”

Zurück in die Christophgasse. Dort ist noch keine Umgestaltung in Sicht. „Wohnstraßen werden in Margareten gar nicht genutzt, weil sie so gestaltet sind, dass sie nicht nutzbar sind“, sagt Michael Luxenberger, Bezirksrat in Margareten. Er setzt sich gemeinsam mit der grünen Bezirksfraktion dafür ein, dass die Wohnstraßen umgestaltet werden. Sie sollen bunter werden, damit man sofort erkennt, dass das hier keine gewöhnliche Straße ist. Und grüner sollen sie werden. Macht man die Gehsteige breiter, indem man Parklücken reduziert, kann man beispielsweise die Fassaden begrünen. Das schaut nicht nur außen schön aus, sondern kühlt auch die Wohnräume.

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Weitere Informationen

Auch die Anrainer:innen würden eine Umgestaltung begrüßen. „Wenn es grundsätzlich mehr Grün gibt, mehr Schatten gibt, wenn es Möglichkeiten gibt für Personen, sich hinzusetzen, vor allem auch für Personen ohne Balkon, dann würde so etwas sicher genutzt werden. Ich würde es auch nutzen“, sagt Julia, die gleich um die Ecke wohnt. „Ich könnte mir vorstellen, wenn man da den Boden regenbogenfarben oder rosarot anmalt, damit man erkennt, jetzt ist man in einer Wohnstraße. Für mich ist der Unterschied zwischen einer Wohnstraße und einer normalen Straße schwer erkennbar“, meint Wolf. Er hat eine Wohnstraße direkt vor der Haustüre.

Soziales Miteinander schaffen

Sowohl im 5. als auch im 7. Bezirk will man ein soziales Miteinander schaffen, indem man Wohnstraßen umgestaltet. „Es ist nicht nur eine ökologische Maßnahme, sondern auch eine wesentliche soziale Maßnahme“, ist sich Reiter sicher. Nachbar:innen können plaudern, miteinander spielen und sich besser kennenlernen. „Die Leute können aus den Häusern rausgehen, mit anderen einen Kaffee trinken, Badminton spielen oder einfach die Freizeit draußen verbringen. Das hat einerseits einen sozialen Aspekt neben dem Austausch. Viele wohnen in Margareten zu mehrt in kleinen Wohnungen und somit haben sie auch mehr Platz im öffentlichen Raum“, hält Luxenberger fest.

Wohnstraßen beleben

Wir sollten die Wohnstraßen vor unseren Haustüren nutzen. Stellen wir Liegestühle raus und genießen wir den Sommer. Spielen wir eine Runde Badminton mit der Nachbarin. Sagen wir weiter, was auf einer Wohnstraße alles möglich ist. So können wir den politischen Entscheidungsträger:innen zeigen, dass es sich lohnt, diese Straßen umzugestalten. Und wir sollten uns so gut wie möglich einbringen, wenn die Straßen umgestaltet werden. Denn sie gehören uns, wir sollen uns gerne in ihnen aufhalten. Das Beispiel Bernardgasse zeigt: Bürger:innen können mitgestalten und ihre Ideen einbringen. Machen wir die Wohnstraßen also zu unseren verlängerten Wohnzimmern.

Über die/den Autor:In

Nicole Frisch
Nicole Frisch
Nicole studiert Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Das Ziel: Die Weltpolitik verstehen – und das Verstandene mit möglichst vielen Menschen teilen. Ihren Weg in den Journalismus hat sie über die NÖN gefunden. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Migration und Vergangenheitspolitik.

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