Der Kampf um Selbstbestimmung

Der Tod der 22-jährigen Kurdin Zhina Amini hat zu einer großen Protestwelle im Iran geführt – zunächst im kurdischen Teil, dann im ganzen Land. Die Menschen demonstrieren für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Frieden. Ein Kampf, der seit Jahrzehnten geführt wird. 

Frauen und weiblich gelesene Personen, die sich ihre Haare abschneiden, ihre Hidschābs verbrennen und sich gegen die Polizei zur Wehr setzen. Mehr als zwei Wochen halten die Proteste gegen das iranische Regime bereits an. Die Demonstrant:innen fordern Freiheit und Selbstbestimmung. Viele werden verhaftet, vielen kostet der Protest das Leben.

Auslöser für die Protestwelle war der Tod von Zhina Amini. Die 22-jährige Kurdin wurde am 13. September in Teheran von der Sittenpolizei festgenommen. Weil sie ihren Hidschāb, eine Art der Kopfbedeckung, nicht so getragen hat, wie es das iranische Regime vorschreibt. Das ist die Aufgabe der Sittenpolizei: zu überwachen, dass die Menschen im Iran islamische Sitten wie die strengen Bekleidungsvorschriften einhalten. Wenige Stunden nach ihrer Verhaftung fiel Zhina ins Koma, drei Tage später war sie tot. Laut ihren Eltern gibt es Anzeichen, dass sie von der Sittenpolizei gefoltert wurde. Diese wiederum weist jegliche Schuld von sich und spricht von einem Herzinfarkt.

Konservative Regierung an der Macht

Dass Zhina Amini festgenommen wurde, weil sie ihren Hidschāb nicht nach den Vorstellungen des Regimes getragen hat, empört. Denn es hätte jede Frau und weiblich gelesene Person treffen können. Im Laufe der Geschichte der Islamischen Republik wurden die Bekleidungsvorschriften mal strenger mal lockerer ausgelegt. Seit die neue Regierung unter Präsident Ebrahim Raisi im Vorjahr an die Macht gekommen ist, werden die Kleidungsvorschriften wieder strenger kontrolliert.

Den Ausgang haben die Proteste gegen das Regime im kurdischen Teil des Irans genommen. Die Volksgruppe der Kurd:innen wird im Iran diskriminiert, das Regime geht repressiv gegen sie vor. Auch kurdisch klingende Namen sind verboten. Daher heißt Zhina offiziell Mahsa. Kurz nach Zhinas Tod ist die kurdische Zivilgesellschaft auf die Straße gegangen. Innerhalb kürzester Zeit ist der Protest auf zahlreiche andere Städte übergegangen.

Frauenbewegung mit langer Geschichte

Die Empörung über Zhinas Tod hat sich zu einer allgemeinen Protestwelle gegen das Regime entwickelt. Bei den Iraner:innen hat sich viel Wut aufgestaut. Die wirtschaftliche Situation ist schlecht. Die Inflation liegt bei über 30 Prozent. Die Menschen wollen ihre Freiheit und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten. Es ist aber auch ein feministischer Kampf, ein Kampf gegen das Patriarchat.

Die Frauenbewegung im Iran hat eine lange Geschichte. Während der Monarchie ist es ihr gelungen, einige Forderungen durchzusetzen. Beispielsweise wurde Frauen und weiblich gelesenen Personen erlaubt, zu studieren und zu wählen. Weiters haben sie mehr Rechte bei Scheidung, Sorgerecht und Abtreibung erhalten. Umstritten war das Verbot des Hidschābs im Jahr 1936. Reza Shah Pahlavi wollte den Iran nach „westlichen“ Standards modernisieren. Der Hidschab war ihm dabei ein Dorn im Auge. Von manchen Frauen und weiblich gelesenen Personen wurde er dabei unterstützt, andere weigerten sich daraufhin, das Haus zu verlassen.

Vom Hidschāb-Verbot zum Hidschāb-Zwang

Während der Islamischen Revolution in den 1970er Jahren wurde der Hidschāb zum Widerstandssymbol. Frauen und weiblich gelesene Personen drückten damit ihre Abneigung gegenüber der Monarchie aus. Sie kämpften damals Seite an Seite mit ihren späteren Unterdrückern. Das war zum einen eine reine Zweckgemeinschaft. Denn sie hatten denselben Feind: den Shah. Zum anderen legten die Fundamentalisten aber nicht von Anfang an ihre eigentlichen Absichten offen. Ruhollah Khomeini, der sich als Führer der Revolution durchgesetzt hat, versprach, die Beibehaltung des Gesellschaftssystems, demokratische Entwicklungen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Den wenigsten war bewusst, wie hart die Fundamentalisten durchgreifen würden. Der Sieg der Revolution und die Ausrufung der Islamischen Republik 1979 bedeuteten für Frauen und weiblich gelesene Personen die Rücknahme sämtlicher Rechte. Unter anderem wurde eingeführt, dass Frauen nur mit Einverständnis von Ehemann, Vater oder Bruder arbeiten oder reisen dürfen. Zudem gelten seither strenge Kleidervorschriften. Auf das Hidschāb-Verbot in der Monarchie folgte ein Hidschāb-Zwang in der Islamischen Republik.

Kampf um Rechte ist gefährlich

Seit der Ausrufung der Islamischen Republik kämpfen Frauen und weiblich gelesene Personen um ihre Rechte. Um ihre Selbstbestimmung. Um ihre Freiheit. Mit der Kampagne „Eine Million Unterschriften“ wollten Aktivist:innen 2006 ein Bewusstsein für die diskriminierenden Gesetze im Iran schaffen und eine breite Debatte über Veränderungen in Gang setzen. Vida Mohaved ist im Dezember 2017 auf einen Stromkasten in der Revolutionsstraße in Teheran gestiegen, hat ihr Kopftuch abgenommen und es auf einen Stock in die Luft gestreckt. Sie wurde verhaftet, mit ihrer Aktion fand sie aber zahlreiche Nachahmerinnen. Seit 2019 dürfen Frauen zu Fußballspielen ins Stadion – nach jahrelangem Druck und dem Tod einer Frau. Die damals 29-jährige Sahar Khodayari versuchte als Mann verkleidet, in ein Stadion zu kommen. Sie wurde erwischt und wegen der Verletzung der moralischen Ordnung sowie Beleidigung von Beamten festgenommen. Als sie erfahren hatte, dass ihr bis zu sechs Monate Haft drohten, hat sie sich vor dem Gerichtsgebäude angezündet. Sie starb an ihren Verbrennungen.

Im Kampf um ihre Rechte setzen die Menschen ihr Leben aufs Spiel. Denn in einem nicht demokratischen Land wie dem Iran sind Demonstrationen und Widerstand nicht sicher. Demonstrant:innen müssen jederzeit mit Gewalt durch den Staat rechnen. Bei den aktuellen Protesten sind laut der Organisation Iran Human Rights bereits mehr als 130 Menschen ums Leben gekommen.

Selbstbestimmt leben

Der Hidschāb spielt in den Protesten der Frauen und weiblich gelesenen Personen eine wichtige Rolle. Nehmen sie ihn in der Öffentlichkeit ab, provozieren sie das Regime. Denn der Hidschāb manifestiert die iranische Identität. Denn kein anderes Symbol zeigt die Dominanz des Islams nach außen hin so gut wie der Hidschāb. In den Protesten geht es aber nicht darum, den Hidschāb aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Er richtet sich gegen das patriarchale System dahinter. Das System, das Menschen, egal welchen Geschlechts, in Rollen drängt und dadurch im Alltag einschränkt. In den Protesten geht es darum, dass die Menschen frei entscheiden können, wie sie leben, was sie anziehen, ob sie den Hidschāb tragen oder nicht. Es geht um nichts weniger als ein selbstbestimmtes Leben für alle.

Über die/den Autor:In

Nicole Frisch
Nicole Frisch
Nicole studiert Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Das Ziel: Die Weltpolitik verstehen – und das Verstandene mit möglichst vielen Menschen teilen. Ihren Weg in den Journalismus hat sie über die NÖN gefunden. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Migration und Vergangenheitspolitik.

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